Am 19.
Dezember 1912 beobachtete der damals 21 Jahre alte schweizerische Student und
zukünftige Historiker und Diplomat Carl Jacob Burckhardt den langen und
prunkvollen Leichenzug des Prinzregenten Luitpold von Bayern aus einem Fenster
eines Münchner Hauses. Als er sich 1961 an diese Bestattungsfeier erinnerte,
legte er sie als den Trauerzug des alten Europas aus, derer Mächte bald den
selbstmörderischen ersten Weltkrieg beginnen würden.
Carl Jacob
Burckhardt (1891-1974) war der Großneffe des berühmten Kunsthistorikers Jacob
Burchkardt (1818-1897), der Schwiegersohn des Historikers und Essayisten Gonzague
de Reynold (1880-1970), und der Schwiegervater des Philosophen André de Muralt
(*1931). Weiteres über ihn können unsere Leser hier erfahren:
Eine
Bestattungsfeier
Am
12. Dezember erfuhren die Münchner, daß der Prinzregent Luitpold im 91. Lebensjahre
gestorben sei. Man begegnete nach dem Eintreffen dieser Nachricht auf der Straße
weinenden Menschen, vor allem alten Frauen und Männern. «Ein Vater ist gestorben», sage der Pedell der Universität. Fräulein Anastasia
Held, meine betagte Zimmervermieterin, war schon schwarz gekleidet, als ich
nach Hause kam. Ihre Augen waren rot, sie schluchzte vorwurfsvoll, weil ich ein
Ausländer war, und sie somit annahm, ich sei ihrem Schmerz gegenüber weitgehend
verständnislos. Sie hatte unrecht, ich war es nicht. Das uralte,
patriarchalische Verhältnis zwischen der tausendjährigen Dynastie und der
bayrischen Bevölkerung war nie inniger und einfacher als noch im Beginn dieses
Jahrhunderts.
Zugleich
mit einem meiner schweizerischen Studienkameraden und Freunden erhielt ich eine
Einladung, am Tage der Beisetzung zwischen elf und zwölf Uhr vormittags in eine
sogenannte Mezzaninwohnung zu kommen, an eine der Hauptstraßen, durch welche
der Leichenzug seinen feierlich gemessenen Verlauf nehmen sollte.
Donnerstag,
den 19. Dezember, begaben wir uns an den uns gastfreundlich zur Verfügung
gestellten Beobachtungsposten. Hinzugelangen war mit Schwierigkeiten verbunden.
Seit der Beisetzung Ludwigs II. des unglücklichen, schon von Legenden umwobenen
Märchenkönigs, der auf den Flügeln des Wahnes, nachwirkend aus der hohen Zeit
des Barocks, in Tälern und auf Höhen phantastische Schlösser hervorzauberte,
war keine solche Menschenmenge in der Hauptstadt zusammengeströmt. Lange hatte
es der Verweser des königlichen Amtes, eben der Prinzregent, schwer gehabt,
sich mit Mitteln, die denen des von Wagnerscher Musik umrauschten Fürsten
völlig entgegenliefen, mit Mitteln landesväterlichen, von gesundem Verstand geleiteten
Pflichtgefühls, die Herzen seiner Untertanen zu gewinnen, aber er hatte sie
schließlich völlig gewonnen, nicht durch den bajuwarischen Theatersinn, den
Sinn für das Phantastische, sondern im Gegenteil, indem er den nüchternen
Eigenschaften, die der barocken Schmuckfreude die Waage halten, entgegenkam.
Der
niedrige, langgestreckte Raum der Etagenwohnung des in den vierzieger Jahren
des letzten Jahrhunderts erbauten Hauses unserer Gastgeber hatte acht Fenster,
die zwischen schweren Vorhängen vom niedern Sims bis fast zur Decke reichten.
Diese Fenster blieben geschlossen, solange auf der Straße Unruhe herrschte.
Bald waren die letzten Wagen vorbeigerasselt, aber immer noch sich erneuernde
Scharen von Fußgängern schoben sich schlurfend und in merkwürdiger Weise
abgedämpft schreitend zum Stadtinnern, wobei sie vom Ordnungsdienst bereits in
die Seitengassen gedrängt wurden. Nach und nach trat Ruhe ein. Jetzt hörte man
Kirchenglocken, nicht füllig wie in der Neujahrsnacht, es waren rechte
Sterbeglocken, und dann wurde plötzlich alles still. Jetzt zogen wir die Mäntel
an, öffneten die hohen Fensterflügel und verfügten uns an den uns angewiesenen
Platz. Die Straße war nur auf beiden Seiten von der zum Stillstand gekommenen,
dichten Menge gesäumt, vor der schweigenden Menge in weiten Abständen stand die
ordnende Truppe, die Fahrbahn war jetzt völlig leer. Sie war zur Bühne
geworden. Die erste Figur, die auf dieser Bühne auftrat, war ein berittener
Polizeioffizier, der von einem zum andern Straßenende in scharfem Trab seiner
Isabelle, sich in den Bügeln unverhältnismäßig hochhebend, mit grimmigem
Gesicht und hochgezwirbeltem Schnurrbart, nach rechts und links zornig-strenge
Blicke werfend, vorbeisprengte. Hierauf wurde es so still, daß auch wir an
unseren Fenstern nur noch lispelten. Jetzt trug der Wind uns einen Rhythmus zu,
verhüllt, gequetschtes, tonloses Rollen umflorter, flacher Trommeln, und hin
und wieder stärker, dann wieder verweht, Töne eines schleppenden, noch nicht zu
erkennenden Trauermarsches.
Es
erschien die Spitze des Zuges, und an dieser Spitze ritt der barocke,
wohlvertraute Tod, schwarz und silbern, nächtlich blaß mit seinem schwarzen
Zepter auf einem tänzerisch tänzelnden, silbrig aufgezäumten Rappen. Es folgte
in gemessenem Schritt ein Beritt, ich nehme an, es waren schwere Reiter, dann
kam der von acht ausgewählten Trauerpferden gezogene Sarg auf einer Lafette.
Hinter
dem Sarg wurde das gesattelte Leibroß geführt, gegen den Zaum stoßend, den Hals
mit der genau geschnittenen Mähne streckend, unter dem raschen Ohrenspiel mit
geblähten Nüstern und scheuem Blick witternd.
Und
dann folgte die Schar der Fürsten. Es erschien der älteste Sohn des
Prinzregenten, der siebenundsechzigjährige Prinz Ludwig, leicht hinkend infolge
einer Verletzung, die er eins im bayrisch-preußischen Krieg 1866 erhalten
hatte. Ludwig, den man den Dritten nennen sollte und der als letzter bayrischer
König die deutschen Monarchien nach ihrem Verschwinden noch um drei Jahre
überleben sollte. Der König von Sachsen marschierte an seiner Linken. Ludwig
war nun der Chef des Hauses Wittelsbach, das seine Ahnenreihe auf den am 9.
August 907 verstorbenen Luitpold, den Markgrafen im Lande unter der Ens
zurückführt, den Vetter und Feldherrn des Kaisers Arnulf aus dem Hause der
Karolinger. Aber noch vor ihm und dem Wettiner, um eine halbe Pferdelänge
voraus, schritt einsam Willhelm II., der deutsche Kaiser und König von Preußen.
Eisern schritt er dahin, kein Muskel seines Gesichtes bewegte sich, die blauen
Augen blickten starr, tiefernst. Unerschöpflich scheinende Macht, Hoheit und
Ernst des Herrscheramtes stellte er dar. Als erster unter seinen Paladinen
wandelte er dahin. Die Uniform des bayrischen Regimentes, dessen Inhaber er
war, aber umschloß keinen eisernen Menschen, sondern einen Mimen, von nahe
bevorstehendem Schicksal schon gezeichnet, einem Schicksal, das nicht seiner
Person galt, als deren später Vertreter er vor uns auftauchte und wieder
verschwand. Mit Abstand folgte dem Kaiser und beiden Königen der bayrische
Prinz Luitpold, nebem ihm aber zog der Vertreter der Habsburger-Monarchie, der
Erzherzog Franz Ferdinand vorüber, der von jenem 19. Dezember an noch achtzehn
Monate und neun Tage zu leben hatte, bis zu dem Augenblick, in dem ihn die
Kugeln Gavrilo Princips in Sarajewo treffen sollten. Zur Rechten des
Wittelsbachers ging der Coburger Albert I., der König der Belgier. Der
Kronprinz Rupprecht, diese so berechtigte Hoffnung des Hauses Bayern, in seiner
Vollkraft, dreiundvierzigjährig, erschien zwischen dem Großfürsten Boris, dem
Vertreter des Zaren aller Reußen aus dem Hause Holstein-Gottorp und dem
Vertreter des Königs von England, des Herzogs von Teck aus dem Hause
Württemberg; noch folgte der Prinz Karl zwischen dem Infanten von Spanien, Don
Carlos, und dem Herzog von Genua aus dem Hause Savoyen. Auch die Söhne Wilhelms
II. waren zugegen. Alle diese Fürsten waren seit Menschengedenken miteinander
verschwistert, fast alle waren deutschen Ursprungs, und diese große,
blutsverwandte Sippe war an jenem Wintertage 1912 von Thron zu Thron noch über
die in ihrer Weltstellung so unerschüttert scheinende und doch durch
furchtbarste Spannung zerrissene europäische Welt verteilt. Alle nannten sich
untereinander «Vetter», und so verschwanden sie vor unseren hohen
Fenstern langsam und unheimlich wie die Könige vor Macbeth. Es war
verwunderlich, daß der letzte im Zuge nicht einen Spiegel in der Hand hielt,
und daß man nicht wispern hörte:
Erste Hexe
Wann kommen
wir drei uns wieder entgegen,
Im Blitz und
Donner, oder im Regen?
Zweite Hexe
Wenn der
Wirrwarr stille schweigt,
Wer der
Sieger ist, sich zeigt!
Dritte Hexe
Das ist, eh
der Tag sich neigt.
«Eh
der Tag sich neigt»: Schon war Stolypin
ermordert, das Geschick der russischen Monarchie erfüllt. China war Republik
geworden. Rußland arbeitete an der Bildung des Balkanbundes. Frankreich hatte
sich das Protektorat über Marokko erkämpft, es hatte die dreijährige Dienstzeit
wieder eingeführt. Delcassé war zum französichen Botschafter in Petersburg
ernannt worden, Poincaré war Ministerpräsident, der französische-russische
Flottenvertrag wurde abgeschlossen. Zweieinhalb Monate nach dieser
Bestattungsfeier, der wir junge Studenten beiwohnten, wurde Woodrow Wilson zum
Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Und an der Spitze des Zuges der
Fürsten der alten Welt, hinter dem Sarg eines ausgezeichneten Mannes, war unter
einer unvergeßlichen Maske, bei gedämpften Trommelklang, der letzte deutsche
Kaiser vorübergeschritten.
Vielleicht
habe ich in den Vollzug großer geschichtlicher Begebenheiten kaum je
unheimlicheren Einblick erhalten als in diesem einen Augenblick im Beginn
dieses Jahrhunderts, dem wir alle mit Haut und Haaren angehören.
Carl. J. Burckhardt, «Eine
Bestattungsfeier»,
in Betrachtungen und Berichte,
Zürich,
Manesse Verlag, 1964, S. 219-225.
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