Benozzo Gozzoli, Le triomphe de saint Thomas d'Aquin, 1471

jeudi 14 juillet 2011

Auszug aus den « Erinnerungen an den Rhein » von Carl Burckhardt (2)

            Die Sommermonate verbrachte ich stets bei meinem Großvater in seinem Haus an der Flanke der letzten Jurahügel. Da stand jenseits des Tales, am Himmelsrand, unabsehbar Gipfel an Gipfel, der Schwarzwald. Durch die schon von Abendschatten erfüllte Ebene zog der Rhein seine noch helle Bahn. Im Dunst gewarhte man sehr ferne die Türme der Stadt und im Westen mit unerbittlicher Schärfe die Kämme der Vogesen. Mein Großvater sagte mir:
            „Dort ist die Grenze – vielleicht wird sie zu deinen Lebzeiten vorrücken bis zum Strom.“
            „Grenze“, ein dunkles Wort, das mich bis ins Innerste erschreckte. Meine unteilbare Landschaft war zerrissen.
            Wie oft hat mir der alte Mann vom Rhein gesprochen: „Seine Mündung ins Meer ist so reich wie sein Quellgebiet, dieses Netz von Bergbächen und Wasserfällen um den St. Gotthard, dne großen Eckstein der Alpen, herum. Die schönsten Alpengewässer nimmt er auf und hier, gleich nach unserer Stadt, der große Entschluß: er wendet sich nach Norden. Im Verhältnis zu der Kürze seines Weges zum Meer ist der Reichtum seiner Zuflüsse wunderbar, und das erklärt die herrliche Vielgestalt seines Mündungsbereichs, die Fülle der Wege, die er ganz am Ende seiner Fahrt noch einschlägt.“
            Mein Großvater gehörte zu der Generation, deren Väter im 18. Jahrhundert gelebt hatten; er beherrschte noch Latein und Griechisch wie lebende Sprachen. Aus Jean Paul las er mir vor, sprach Strophen von Hölderlin vor sich hin, aus einer Dichtung, die damals in Deutschland fast vergessen war. Er las mir auch aus den Briefen der Madame de Sévigné und denjenigen des Lord Chesterfield, der seinem Sohne kluge Ermahnungen erteilt. Auf den Spaziergängen, als erzähle er, sagte er mir Strophen von Goethe und Eichendorff, aber auch ganze Szenen aus Shakespeare und Racine. Das war unbewußter Besitz, dem scheuen und zurückhaltenden Mann selbstverständlich.
            Bisweilen rührte er an Geschichte in seiner Weise: „Dort“, sagte er und bezeichnete eine Senkung in den östlich von unserm Standort, jenseits des Rheintales sich erhebenden Waldkämmen, „entspringt di Donau; dank ihrem Lauf ist Österreich entstanden.“ Ich hörte viele Namen von unbekannten Orten, aber immer führte alles zum Rhein zurück; er sprach von der Mosel, der Schelde, von der Verbindung des Rheins mit deutschen und baltischen Strömen, von der Ems, der Weser, der Elbe, der Oder, der Weichsel, dem Njemen und der Düna: Personen waren sie, wie „Dill der Pächter“ und „Elise“ seine Tochter. Und er sagte: „Wenn du später nach Westen gehst, wirst du erkennen, daß der Rhein durch seine Nebenflüsse mit Seine und Rhone verbunden ist, und am Ende seines Laufes zur Nordsee entspricht seine Mündung der Mündung der Themse.“
            Den Rhein hat mein Großvater geliebt wie eine Heimat: „Er ist“, so sagte er, „wie die Herzader des Kontinents; glücklich war man in den Zeiten, in denen er keine Grenze bezeichnete, in denen er die Völker verband.“ An einen Triumphweg dachte ich, wenn ich die Namen Köln, Trier, Mainz, Straßburg und Basel hörte.
            Ja, lauter Namen im märchenhaften Halbdunkel der Kindheit, und ich wußte noch nicht, daß mit diesen Namen Europa aufgerufen wurde. Was war Europa? Ein Wesen, so erschien es mir, von welchem man mit Trauer zu sprechen begann wie von einem guten Geist, der im Begriffe stand, uns zu verlassen. Oft hörte ich mit halben Ohr zu an jenen Sonntagen, an denen mein Großvater Freunde aus der alten Civitas litterarum bei sich vereinigte, und ich hörte ihre Gespräche, wenn sie in der Laube saßen, neben welcher ich im Schatten des kühlen Zimmers die Geschichte von den vier Heymonskindern las.
            Da war immer der alte Overbeck, Nietzsches Freund; Gäste aus Lothringen erschienen, welche aus Bayreuth zurückkehrten. Ich sehe die Gesichter noch unter den breiten Strohhüten über den weißen Piquéwesten, ich höre noch die Stimmen, die in vielen Sprachen redeten; das große Gespräch hatte seit der Renaissance, seit der Zeit der Humanisten, nie aufgehört, noch war es nicht abgerissen, noch schien es alle Grenzen aufzuheben, aber schon klang es unwirklich.

Carl J. Burckhardt, „Erinnerungen an den Rhein“, in Begegnungen,
Manesse Verlag, Zürich, 1958, S. 13-16.

mercredi 13 juillet 2011

Auszug aus den « Erinnerungen an den Rhein » von Carl Burckhardt (1)

            Mir ist, als sei der erste Laut, den ich in meinem Leben vernommen habe, das Rauschen des Rheins gewesen.
            Am Rhein stand unser Haus. Noch heute erhebt es sich aus der Feuchte des Strombettes am steilen Uferhang hinansteigend zur Höhe des Hügels, auf dem das Münster liegt. Vom stillen Münsterplatz aus, in der sonnigen Ecke, der Kathedrale gegenüber, kann man den unscheinbaren Bau noch durch die schmale Türe oder ein breiteres Tor betreten. Über dem Strom aber strebt die Front hoch empor; ein Altan teilt das Gebäude in der Mitte seines Anstiegs, so daß er sich zuletzt nur noch mit drei spiegelnden Fenstern, zwischen Säulen verjüngt, über das wandernde Licht der strömenden Flut und vor dem weiten Blick auf die Bergkämme des Schwarzwaldes erhebt.
            Ein stilles, weitläufiges Haus, in dem man damals keinen Schall vernahm außer dem gewaltigen Rauschen des noch jungen, ungebändigten Bergstroms, hin und wieder das Rufen der Flößer, das ferne Rollen eines Wagens, den Klang der Pferdehufe, Glockenläuten der Kirchen, Orgelton und Chorgesang.
            Aus meinem über dem weiten Platz gelegenen Zimmer gewahrte ich den romanischen Teil der in rotem Sandstein erbauten Kirche, den Chor, das Querschiff, die einst dem großen Erdbeben standgehalten haben, die Pforte des heiligen Gallus – und über dem Tor mit seinen Totenschiffen und wunderlichen Tieren das große steinerne Glücksrad und das farbenleuchtende Rundfenster. Noch heute dreht das Rad in meiner Vorstellung. Auf seiner höchsten Stelle schient mir ein Thron zu wanken; der König, der sich an den Sitz klammert, wird die Krone verlieren. Gleich wird er weggeschleudert werden und unter die Felgen geraten. Zu seiner Rechten, dort wo im Kreisrund der Uhr der Zeiger die dritte Stunde angibt, jagt ein anderer Herrscher dem Abgrund zu. Wo die sechste Stunde ihr Zeichen hat, wird ein Mächtiger vom Rad zermalmt; aber wo die neunte Stunde angezeigt wird, da beginnen andere Monarchen zu klettern, und ich wartete immer darauf, daß der am höchsten hinaufgelangte nach dem Fuß des mitternächtigen obersten greife, des ersten, der gleich stürzen wird, um ihn rascher vom Throne zu stoßen – und immer wieder dreht das Rad.
            Jedesmal wenn ich mein Zimmer verließ, so ergriff mich in dem schmalen, quer durch das Stockwerk laufenden Hausflur ein lispelnder Tumult von tausend Stimmen, leise, eindringlich sausend wie in einer Muschel, die Stimme des Stroms. Und wenn ich mit Herzklopfen durch den dunklen Gang gelangte ins Treppengehäuse, das bis zum kalten Ufergarten führte, da wurde das nie aussetzende Geräusch immer stärker, in Rhythmen hallend. Die gepreßten Wassermassen wühlten im Strombett – un dann ganz nahe, an der Grenze des Hörbaren, vernahm ich das Knirschen des mächtigen Geschiebes, des Alpengesteins auf seinem Marsch.
            Welch eine Reise durch das Haus! Der Schemel wird an die Tür geschoben, die leichte Messingklinke mit Mühe gesenkt; die Tür öffnet sich nach außen, dunkle, modrige Kühle, Apfelgeruch und eine leichte Welle verführerischer Angst dringen ein. Man geht sehr weite Wege im Beginn des Lebens, der Flur scheint endlos. Die Eichentreppe, die zum Fluß hinunterführt, ist so verschieden von der anderen gewundenen Stufenfolge, auf der man zum sonnigen Platz gelangt; sie ist eingeschlossen im Innersten des Hauses, sie ist eine Zauberröhre, ein Weg der Verwandlung, durch den man aus der Oberwelt des Menschenreiches hinuntersteigt in eine Einsamkeit ohnegleichen, wo im wild wuchernden Schattengarten, zwischen hohen wiegenden Gräsern, die von den reißenden Wassermassen mitgezogene Luftschicht in alle Bäume Aufruhr bringt, nicht nur ins Espenlaub, auch in die kühlen Weidenzweige und ins Blätterwerk der Buche. Auf den Garten öffnet sich der Planzenkeller. An seine getünchten hellroten Wände hat die Feuchtigkeit große grüne Flecken mit weißen Moderrändern gemalt. Dort, inmitten von roten und weißen Oleandersträuchen, hing die Schaukel, ein zierlicher kleiner Sessel aus der Zeit der Urgroßmütter, ein Sessel mit Rücklehne. Und nun das Schaukelns, das Wiegen im Schattenraum, Taumel zwischen der zarten Röte und dem tiefen Grün; im Halbkreis des Schwunges ging die Schaukel auf und nieder, und dazu klang unaufhörlich und mächtig der Gesang der Fluten. Droben aber, an der gewölbten Decke des Raumes, zitterten und huschten lichte Kreise, Lichtringe, von der ziehenden Spiegelflut durchs geöffnete Fenster zurückgeworfen. Bisweilen ließ das Kind eine Hand los und versuchte die Ringe zu fassen, wenn die Schaukel stieg; aber schon sank sie wieder, und sie blieben unerreichbar.
            Dann war das Spiel mit der Schaukel vorüber. Einst durfte ich weit über den unter den Brücken von leuchtenden Bändern überschauerten Rhein bis tief in die Nacht auf den Fußspitzen am geöffneten Fenster stehen. Von dem gespannten Spiegels des durch die Stadt ins Dunkle stürzenden Stromes wurden die vertrauten Stimmen aller Glocken der alten Stadt zurückgeworfen. Die Uhren schlugen zwölf Schläge; das neue Jahrhundert war angebrochen.

Carl J. Burckhardt, „Erinnerungen an den Rhein“, in Begegnungen,
Manesse Verlag, Zürich, 1958, S. 9-13.