Mir ist, als sei der erste Laut, den ich in meinem Leben vernommen habe, das Rauschen des Rheins gewesen.
Am Rhein stand unser Haus. Noch heute erhebt es sich aus der Feuchte des Strombettes am steilen Uferhang hinansteigend zur Höhe des Hügels, auf dem das Münster liegt. Vom stillen Münsterplatz aus, in der sonnigen Ecke, der Kathedrale gegenüber, kann man den unscheinbaren Bau noch durch die schmale Türe oder ein breiteres Tor betreten. Über dem Strom aber strebt die Front hoch empor; ein Altan teilt das Gebäude in der Mitte seines Anstiegs, so daß er sich zuletzt nur noch mit drei spiegelnden Fenstern, zwischen Säulen verjüngt, über das wandernde Licht der strömenden Flut und vor dem weiten Blick auf die Bergkämme des Schwarzwaldes erhebt.
Ein stilles, weitläufiges Haus, in dem man damals keinen Schall vernahm außer dem gewaltigen Rauschen des noch jungen, ungebändigten Bergstroms, hin und wieder das Rufen der Flößer, das ferne Rollen eines Wagens, den Klang der Pferdehufe, Glockenläuten der Kirchen, Orgelton und Chorgesang.
Aus meinem über dem weiten Platz gelegenen Zimmer gewahrte ich den romanischen Teil der in rotem Sandstein erbauten Kirche, den Chor, das Querschiff, die einst dem großen Erdbeben standgehalten haben, die Pforte des heiligen Gallus – und über dem Tor mit seinen Totenschiffen und wunderlichen Tieren das große steinerne Glücksrad und das farbenleuchtende Rundfenster. Noch heute dreht das Rad in meiner Vorstellung. Auf seiner höchsten Stelle schient mir ein Thron zu wanken; der König, der sich an den Sitz klammert, wird die Krone verlieren. Gleich wird er weggeschleudert werden und unter die Felgen geraten. Zu seiner Rechten, dort wo im Kreisrund der Uhr der Zeiger die dritte Stunde angibt, jagt ein anderer Herrscher dem Abgrund zu. Wo die sechste Stunde ihr Zeichen hat, wird ein Mächtiger vom Rad zermalmt; aber wo die neunte Stunde angezeigt wird, da beginnen andere Monarchen zu klettern, und ich wartete immer darauf, daß der am höchsten hinaufgelangte nach dem Fuß des mitternächtigen obersten greife, des ersten, der gleich stürzen wird, um ihn rascher vom Throne zu stoßen – und immer wieder dreht das Rad.
Jedesmal wenn ich mein Zimmer verließ, so ergriff mich in dem schmalen, quer durch das Stockwerk laufenden Hausflur ein lispelnder Tumult von tausend Stimmen, leise, eindringlich sausend wie in einer Muschel, die Stimme des Stroms. Und wenn ich mit Herzklopfen durch den dunklen Gang gelangte ins Treppengehäuse, das bis zum kalten Ufergarten führte, da wurde das nie aussetzende Geräusch immer stärker, in Rhythmen hallend. Die gepreßten Wassermassen wühlten im Strombett – un dann ganz nahe, an der Grenze des Hörbaren, vernahm ich das Knirschen des mächtigen Geschiebes, des Alpengesteins auf seinem Marsch.
Welch eine Reise durch das Haus! Der Schemel wird an die Tür geschoben, die leichte Messingklinke mit Mühe gesenkt; die Tür öffnet sich nach außen, dunkle, modrige Kühle, Apfelgeruch und eine leichte Welle verführerischer Angst dringen ein. Man geht sehr weite Wege im Beginn des Lebens, der Flur scheint endlos. Die Eichentreppe, die zum Fluß hinunterführt, ist so verschieden von der anderen gewundenen Stufenfolge, auf der man zum sonnigen Platz gelangt; sie ist eingeschlossen im Innersten des Hauses, sie ist eine Zauberröhre, ein Weg der Verwandlung, durch den man aus der Oberwelt des Menschenreiches hinuntersteigt in eine Einsamkeit ohnegleichen, wo im wild wuchernden Schattengarten, zwischen hohen wiegenden Gräsern, die von den reißenden Wassermassen mitgezogene Luftschicht in alle Bäume Aufruhr bringt, nicht nur ins Espenlaub, auch in die kühlen Weidenzweige und ins Blätterwerk der Buche. Auf den Garten öffnet sich der Planzenkeller. An seine getünchten hellroten Wände hat die Feuchtigkeit große grüne Flecken mit weißen Moderrändern gemalt. Dort, inmitten von roten und weißen Oleandersträuchen, hing die Schaukel, ein zierlicher kleiner Sessel aus der Zeit der Urgroßmütter, ein Sessel mit Rücklehne. Und nun das Schaukelns, das Wiegen im Schattenraum, Taumel zwischen der zarten Röte und dem tiefen Grün; im Halbkreis des Schwunges ging die Schaukel auf und nieder, und dazu klang unaufhörlich und mächtig der Gesang der Fluten. Droben aber, an der gewölbten Decke des Raumes, zitterten und huschten lichte Kreise, Lichtringe, von der ziehenden Spiegelflut durchs geöffnete Fenster zurückgeworfen. Bisweilen ließ das Kind eine Hand los und versuchte die Ringe zu fassen, wenn die Schaukel stieg; aber schon sank sie wieder, und sie blieben unerreichbar.
Dann war das Spiel mit der Schaukel vorüber. Einst durfte ich weit über den unter den Brücken von leuchtenden Bändern überschauerten Rhein bis tief in die Nacht auf den Fußspitzen am geöffneten Fenster stehen. Von dem gespannten Spiegels des durch die Stadt ins Dunkle stürzenden Stromes wurden die vertrauten Stimmen aller Glocken der alten Stadt zurückgeworfen. Die Uhren schlugen zwölf Schläge; das neue Jahrhundert war angebrochen.
Carl J. Burckhardt, „Erinnerungen an den Rhein“, in Begegnungen,
Manesse Verlag, Zürich, 1958, S. 9-13.
Manesse Verlag, Zürich, 1958, S. 9-13.
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