Die Sommermonate verbrachte ich stets bei meinem Großvater in seinem Haus an der Flanke der letzten Jurahügel. Da stand jenseits des Tales, am Himmelsrand, unabsehbar Gipfel an Gipfel, der Schwarzwald. Durch die schon von Abendschatten erfüllte Ebene zog der Rhein seine noch helle Bahn. Im Dunst gewarhte man sehr ferne die Türme der Stadt und im Westen mit unerbittlicher Schärfe die Kämme der Vogesen. Mein Großvater sagte mir:
„Dort ist die Grenze – vielleicht wird sie zu deinen Lebzeiten vorrücken bis zum Strom.“
„Grenze“, ein dunkles Wort, das mich bis ins Innerste erschreckte. Meine unteilbare Landschaft war zerrissen.
Wie oft hat mir der alte Mann vom Rhein gesprochen: „Seine Mündung ins Meer ist so reich wie sein Quellgebiet, dieses Netz von Bergbächen und Wasserfällen um den St. Gotthard, dne großen Eckstein der Alpen, herum. Die schönsten Alpengewässer nimmt er auf und hier, gleich nach unserer Stadt, der große Entschluß: er wendet sich nach Norden. Im Verhältnis zu der Kürze seines Weges zum Meer ist der Reichtum seiner Zuflüsse wunderbar, und das erklärt die herrliche Vielgestalt seines Mündungsbereichs, die Fülle der Wege, die er ganz am Ende seiner Fahrt noch einschlägt.“
Mein Großvater gehörte zu der Generation, deren Väter im 18. Jahrhundert gelebt hatten; er beherrschte noch Latein und Griechisch wie lebende Sprachen. Aus Jean Paul las er mir vor, sprach Strophen von Hölderlin vor sich hin, aus einer Dichtung, die damals in Deutschland fast vergessen war. Er las mir auch aus den Briefen der Madame de Sévigné und denjenigen des Lord Chesterfield, der seinem Sohne kluge Ermahnungen erteilt. Auf den Spaziergängen, als erzähle er, sagte er mir Strophen von Goethe und Eichendorff, aber auch ganze Szenen aus Shakespeare und Racine. Das war unbewußter Besitz, dem scheuen und zurückhaltenden Mann selbstverständlich.
Bisweilen rührte er an Geschichte in seiner Weise: „Dort“, sagte er und bezeichnete eine Senkung in den östlich von unserm Standort, jenseits des Rheintales sich erhebenden Waldkämmen, „entspringt di Donau; dank ihrem Lauf ist Österreich entstanden.“ Ich hörte viele Namen von unbekannten Orten, aber immer führte alles zum Rhein zurück; er sprach von der Mosel, der Schelde, von der Verbindung des Rheins mit deutschen und baltischen Strömen, von der Ems, der Weser, der Elbe, der Oder, der Weichsel, dem Njemen und der Düna: Personen waren sie, wie „Dill der Pächter“ und „Elise“ seine Tochter. Und er sagte: „Wenn du später nach Westen gehst, wirst du erkennen, daß der Rhein durch seine Nebenflüsse mit Seine und Rhone verbunden ist, und am Ende seines Laufes zur Nordsee entspricht seine Mündung der Mündung der Themse.“
Den Rhein hat mein Großvater geliebt wie eine Heimat: „Er ist“, so sagte er, „wie die Herzader des Kontinents; glücklich war man in den Zeiten, in denen er keine Grenze bezeichnete, in denen er die Völker verband.“ An einen Triumphweg dachte ich, wenn ich die Namen Köln, Trier, Mainz, Straßburg und Basel hörte.
Ja, lauter Namen im märchenhaften Halbdunkel der Kindheit, und ich wußte noch nicht, daß mit diesen Namen Europa aufgerufen wurde. Was war Europa? Ein Wesen, so erschien es mir, von welchem man mit Trauer zu sprechen begann wie von einem guten Geist, der im Begriffe stand, uns zu verlassen. Oft hörte ich mit halben Ohr zu an jenen Sonntagen, an denen mein Großvater Freunde aus der alten Civitas litterarum bei sich vereinigte, und ich hörte ihre Gespräche, wenn sie in der Laube saßen, neben welcher ich im Schatten des kühlen Zimmers die Geschichte von den vier Heymonskindern las.
Da war immer der alte Overbeck, Nietzsches Freund; Gäste aus Lothringen erschienen, welche aus Bayreuth zurückkehrten. Ich sehe die Gesichter noch unter den breiten Strohhüten über den weißen Piquéwesten, ich höre noch die Stimmen, die in vielen Sprachen redeten; das große Gespräch hatte seit der Renaissance, seit der Zeit der Humanisten, nie aufgehört, noch war es nicht abgerissen, noch schien es alle Grenzen aufzuheben, aber schon klang es unwirklich.
Carl J. Burckhardt, „Erinnerungen an den Rhein“, in Begegnungen,
Manesse Verlag, Zürich, 1958, S. 13-16.
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